Kleidung und Mode als Spiegel. Zum Kunstprojekt von onedotseven


Andreas Beaugrand

„A lot of people have taste, but they’re not daring enough to be creative.“
Bill Cunningham (1926–2016), amerikanischer Modefotograf

Zeitsprung 1900/2000

Bereits vor gut 100 Jahren begann das flirrende Spiel zwischen Kunst und Mode und Mode und Kunst – ein höchst interessantes, vielbeachtetes und vielfach erforschtes Phänomen.(1) So entwarf beispielsweise der belgische Jugendstilkünstler Henry van de Velde (1863–1957) kurz nach 1900 für seine Frau Maria ein Kleid ohne einengend geschnürtes Korsett.(2) 15 Jahre später erfand der italienische Maler, Modedesigner, Architekt und Erfinder Mariano Fortuny die plissierten Delphos-Roben aus einem feinst gefältelten Seidenschlauch, die Konturen umspielten, statt sie zu verformen.(3) Etwa zur gleichen Zeit sammelte Frankreichs erster Modedesignstar Paul Poiret die Künstler des Art Nouveau und mit dem in Paris arbeitenden Briten Charles Frederick Worth (1825–1895) begannen die Konfektion und die bis heute üblichen Modeschauen, indem er als erster Modedesigner zum ersten Mal lebende Mannequins über Laufstege gehen ließ, statt die Kollektionen auf Kleiderpuppen zu präsentieren.(4)
Christian Dior (1905–1957), der nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem New Look wieder weiblich wirkende Kleidung für elegante Frauen schuf, war ursprünglich Kunsthändler.(5) Der Surrealist Salvador Dalí (1904–1989) und die italienische Modedesignerin Elsa Schiaparelli (1890–1973) konstruierten zusammen Anzüge mit Taschen in Lippenform und übersetzten Bilder des Surrealismus in Mode, indem sie Modellen einen Schuh auf den Kopf setzten. Weithin bekannt sind die mit leuchtfarbigen Simultankreisen bedruckten Kleider und Badeanzüge der Ukrainerin Sonia Delaunay-Terk (1885–1979) und die bunten Herrenanzüge des italienischen Futuristen Giacomo Balla (1871–1958): Stilprägendes und epochales Design.

Grenzüberschreitungen und Hype

Seither inspirierten sich Künstler und Modedesigner gegenseitig. Aber erst, als sich Mode und Kunst seit den späten 1960er Jahren allmählich zum „Big Business“ entwickelten, als Kunstmarkt und Modemarken immer internationaler wurden und schier endlos expandierten, kommerzialisierte sich die intensive Verbindung zwischen Kunst und Mode.(6) Grenzüberschreitungen und Tabubrüche wie in den Performances, Happenings und Körperaktionen der 1960er und 1970er Jahre blieben zunächst noch unangefochtenes Hoheitsgebiet der Kunst.(7) Umgekehrt kokettierte die Mode gerne mit der Kunst – etwa, wenn Yves Saint Laurent Piet Mondrians De Stijl-Mosaiken auf seine Kleider druckte.(8)
Ende der 1980er Jahre explodierten dann die Grenzen überall, nicht nur die politischen. In der Mode begann die Ära des Crossover, das fast inflationäre Herstellen immer neuer Collagen, Verknüpfungen, Montagen und Überschneidungen. Mode wurde nahbar, auch durch Fotografen wie Nick Knight (*1958) oder später Tim Walker (*1970), die Modisches in der Realität von Alltag und Freizeit verankerten.(9)
Zugleich entwickelte sich ein wahrer Hype um Designerinnen und Designer, die Mode und Kunst miteinander verwoben.(10) Dazu gehören beispielsweise die japanischen Designerin und Designer Issey Miyake (*1936), Yohji Yamamoto (*1943) und Rei Kawakubo (*1942), in Folge derer die Antwerp 6 mit Walter Van Beirendonck (*1957), Ann Demeulemeester (*1959), Dries Van Noten (1958), Dirk Van Saene (*1959), Dirk Bikkembergs (*1959) und Marina Yeedie (*1958) und schließlich die Belgier Martin Margiela und Walter Van Beirendonck (beide Jahrgang 1957), der Zypriote Hussein Chalayan (*1970), der Brite Alexander McQueen (1969–2010), und das niederländische Duo Viktor & Rolf (1993 von Viktor Horsting und Rolf Snoeren gegründet, beide Jahrgang 1969). Sie alle radikalisierten die Mode, zerrissen Textilien, stülpten das Innere nach Außen – kurz: Sie machten all‘ das zum ersten Mal, das heute gang und gäbe ist.

Neue Reflexion: onedotseven vor Ort

Die Verbindung von Kunst und Mode zum Gesamtkunstwerk ist vollzogen – und geht mit onedotseven nunmehr andere Wege, indem diese Künstlergruppe einerseits keine Namen der Beteiligten nennt und sich andererseits den grundlegenden Themen menschlicher Existenz auf dieser Welt mit den Mitteln der Mode widmet, die sie wiederum zur Kunst macht: Lebensgeschichten werden modisch „erzählt“ und Menschliches wird versinnbildlicht. So wie Banksy das Pseudonym eines vermutlich britischen Street Art-Künstlers und Luther Blissett kein tatsächlich identifizierbarer Autor ist, sondern ein frei verwendbares kollektives Pseudonym und Medienphantom(11) – durchaus verwandt mit dem politischen Urgestein Jakob Maria Mierscheid, der als SPD-Abgeordneter inzwischen seit mehr als 40 Jahren im Bundestag sitzt, aber tatsächlich gar nicht existiert(12) –, steht der rätselhafte Name onedotseven nicht für einzelne Personen, sondern insbesondere für die Themen, die die Künstlergruppe mit ihrem Label diskutiert und interpretiert: Anfang – Ende, Entstehen – Vergehen, Vergänglichkeit – Ewigkeit, Wahrnehmen – Erkennen sind die Leitmotive der künstlerisch-gestalterischen Kollektionen, deren Kontext im besonderen Raum der Alten Synagoge des Kunstvereins Oerlinghausen im Rahmen eines sechswöchigen Ausstellungs- und Performanceprojekts in vier Sets zur Diskussion gestellt werden. Das Projekt thematisiert den Umgang mit Mode und Kleidung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.(13) Das berührt in diesem Kontext zwangsläufig auch die Geschichte der Shoa, den „wirtschaftlichen Umgang“ der Nationalsozialisten mit den Relikten des Mordens und nimmt en passant zugleich Stellung zu den aktuellen neonazistischen und antisemitischen Tendenzen in unserer Gesellschaft.
Als Autorinnen und Autoren von Beiträgen und Statements für dieses das Ausstellungsprojekt begleitende Kunstbuch wurden die Bestatterin Ute Heiler, die Textilwissenschaftlerin Annette Hülsenbeck, Stephan M. Probst, Arzt in einer Palliativstation, Pastor i.R. Ulrich Wolf-Barnett und die Kunsthistorikerin Anna Zika gewonnen, die das Thema aus ihrer jeweiligen Sichtweise kommentieren.
Diskutiert werden dabei die Fragen, inwiefern die eigene Persönlichkeit mit Kleidung und Identifikation zu tun hat, wer sich aus welchen Gründen wie kleidet bzw. gekleidet hat oder kleiden wird, ob das „letzte Hemd“ noch etwas mit der Persönlichkeit des bzw. der Verstorbenen zu tun hat oder ob schließlich überhaupt nichts Äußerliches mehr wichtig ist. Darüber hinaus geht es darum, Kleidung für den jeweiligen Menschen mit Bedeutung zu versehen und zu verdeutlichen, dass es um mehr gehen muss als um eine expansive Textilwirtschaft, die inflationär beliebige Mengen von Kleidungsmöglichkeiten auf Kosten von Mensch und Natur produziert.
Für die Besucherinnen und Besucher der unterschiedlichen Inszenierungen in der Alten Synagoge des Kunstvereins Oerlinghausen stehen im Ausstellungszeitraum Materialien und Infrastruktur bereit. So entsteht ein jeweils individuelles „interaktives Kunstbuch“, das erst am Ende des Ausstellungszeitraums über seinen gesamten Inhalt verfügt.(14) Der darüber hinaus vorgesehene Einsatz verschiedener Foren der „sozialen Medien“ gewährt einem internationalen Publikum beständig Einblick in das Projekt und fordert damit Interaktion und Kommunikation. Vivat sequens!
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Anmerkungen:

1) Vgl. dazu u.a. Markus Brüderlin, Annelie Lütgens (Hg.): Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid, Bielefeld, Leipzig, Berlin 2011; Susanne Neuburger, Barbara Rüdiger (Hg.): Reflecting Fashion. Kunst und Mode seit der Moderne, Köln 2012; Mitchell Oakley Smith, Alison Kubler: Mode ist Kunst. Eine kreative Liaison, München, London, New York 2013; Markus Brüderlin (Hg.): Kunst & Textil. Stoff als Material und Idee in der Moderne von Klimt bis heute, Ostfildern 2013.
2) Vgl. Patricia Ober: Der Frauen neue Kleider. Das Reformkleid und die Konstruktion des modernen Frauenkörpers, Berlin 2005.
3) Vgl. https://www.mkg-hamburg.de/de/sammlung/sammlungen/mode/gesellschaftskleid-delphos.html (10.6.2019).
4) Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon, Stuttgart 2005 (5. Aufl.), S. 581.
5) Vgl. hierzu und für das Folgende Getrud Lehnert: Geschichte der Mode im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 6–17, und im Allgemeinen Gerda Buxbaum: Mode! Das 20. Jahrhundert, München, London, New York 1999.
6) Loschek: Mode- und Kostümlexikon, S. 410–413.
7) Vgl. dazu zeitgenössisch Jürgen Becker, Wolf Vostell: Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1965, und ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie (Hg.): Beuys – Brock – Vostell. Aktion, Demonstration, Partizipation 1949–1983, Berlin, Stuttgart 2014.
8) Jutta Beder: „Zwischen Blümchen und Picasso“. Textildesign der fünfziger Jahre in Westdeutschland, Münster 2002, S. 120 f.
9) Vgl. Elisabeth Raether, Tillmann Prüfer: Der Minimalismus ist kein Trend. Er ist viel mehr, in: ZEITmagazin Nr. 8/2013 vom 14. Februar 2013.
10) Vgl. hier und für das Folgende Ingrid Loschek: Wann ist Mode? Strukturen, Strategien und Innovationen, Berlin 2007, S. 203–209 und S. 221 ff.
11) 1994 lancierten italienische Aktivisten in den damaligen Massenmedien eine Reihe von Falschmeldungen unter diesem Namen. Happening und Fluxus der 1960er Jahre wurden reanimiert, Nachtbusse gekapert und in fahrende Diskotheken umfunktioniert und zahlreiche frei erfundene Geschichten veröffentlicht. Der in Italien als „großer Spaß“ wahrgenommene Luther Blissett wurde später auch von Künstlern, Underground-Musikern und Politaktivisten in England, Spanien, Deutschland und den USA begeistert zitiert. Vgl. die Website http://www.lutherblissett.net/ (4.6.2019).
12) Vgl. u.a. http://www.deutschlandfunk.de/seit-35-jahren-im-bundestag-der-fiktive-abgeordnete-jakob.1773.de.html?dram%3Aarticle_id=305625 (7.6.2019).
13) Zum Aspekt der Kleidung als Spur der Erinnerung vgl. u.a. Cora von Pape: Kunstkleider. Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, S. 173–184.
14) Das Ausstellungsprojekt wurde von der Modedesignerin Georgia Beaugrand kuratiert, die Kunstbuchgestaltung übernahm dankenswerter Weise der Grafiker und Masterstudent Timo Herrmann aus Lemgo.