Michel Meyer



Nichts ist und bleibt allein das, was es vorgibt zu sein.

Phantasien in Farbe, Form und Klang von Michel Meyer

Andreas Beaugrand


Unten ist schon alles besetzt, leider, da wären wir näher dran gewesen, aber oben auf der Empore ist noch was frei. Nebenan sitzt zwar eine dieser Truppen, denen ich nachts und alleine nicht gerne begegnen möchte – sie, blass geschminkt und gepierct an den Stellen, wo man sich gerne kratzt, schwarz gekleidet, selbstverständlich, umgeben von drei Herren, auch schwarz, ist klar, die tagsüber entweder bei ATU oder bei der Allianz arbeiten und jetzt mal einen losgehen lassen wollen. Egal. Torsten kommt und fragt, was wir wollen. Dunkles Hefe, zweimal, ein Alt, einen Kaffee und einen Ouzo. War ja klar. Hombres! Neben uns an den Tisch setzt sich noch so ein dunkles Paar. Unten räumt ein letzter Roadie die Kabeltrommeln zur Seite, und der Langhaarige am Mischpult erzeugt eine Rückkopplung, die sich gewaschen hat. Dass es solche Typen überhaupt noch gibt, ja, er trägt wirklich eine ausgewaschene Jeans zum Fransenhemd, und – ich fass’ es nicht! – einen Lederriemen als Armband. Wo leben die denn? Inzwischen kommen die Getränke, man muss heute gleich bezahlen, und der Kaffee ist kalt. Der Laden füllt sich. Der Wichtigste von allen Hausmeistern schraubt oben noch irgendwelche Birnen rein, oder raus, ich kann es nicht erkennen, und inzwischen tauchen tatsächlich immer mehr von diesen Fransenhemden auf. Was das zu bedeuten hat? Zwei Schlackse tragen die Gitarren auf die Bühne, ein Dritter geht zum Schlagzeug, verrückt irgendwas noch ein wenig, und dann testet er die Base drum: offenbar nur ein leichter Tritt, und der wirkt, als hätte mir der Typ von ATU in den Magen geboxt. Hoffentlich Allianz-versichert! Das kann ja heiter werden, was für ein Sound! Mit was für einer Anlage spielen die denn? Viel kleiner als sonst. Und so wenig. Na ja, die Technik hat sich verbessert in all’ den Jahren, ist ja klar. Aber doch erstaunlich. Mit einem mal sind sie alle da, ein Heidenlärm bricht los, und dann geht es Schlag auf Schlag, alles vibriert, die Gläser tanzen auf den Tischen, und mir wird schlecht: Was für ein Bass! Gott sei Dank spielen sie jetzt erst einmal ein paar Standards, da kann ich in Ruhe die Blicke schweifen lassen. Was ist das? Die Type von der Hamburg Mannheimer am Nachbartisch baggert Grete an. Soll ich warten was noch kommt oder ihm gleich beibringen, wie man in die Nahaufnahme kommt? Ich stehe auf. Stay away from Gretchen, brülle ich. Oder willst Du sofort den Wegweiser durch die mexikanische Nacht? Jetzt dreht er durch. Komm, flieg! sagt er zu mir mit Blick auf die Bühne, ca. drei Meter von hier oben auf der Empore. Während mir ein Nachtgebet durch den Kopf schießt, das ich seit Kindestagen nicht mehr gedacht, geschweige denn gesprochen habe, halte ich ihm eine schnelle Rede gegen das Fliegen, und es kommt, was kommen muss: Ein bedauerlicher Flugversuch knallt mich an die Brüstung der Empore, ich denke noch Bei Kraft ausatmen, wie ich es kürzlich auf dem Bild gesehen habe, ärgere mich zum x-ten Male über meine Computerkompetenz (Die Kung-Fu-Datei ist verlorengegangen!), und dann umfängt mich ein Wind, der nach Stimmen klingt ...

„Durch den andauernden Prozess der Malerei verschwinden alle im Bild entsorgten Gedanken und transformieren sich raupenhaft in Schönes oder Humorvolles. In Geschichten mit offenem Ausgang. Ich lese diese Geschichten gerne, “1 höre ich mit ruhiger Stimme Michel Meyer sagen. Das tröstet. So ein Bild will ich sehen.

Die Geschichte ist für ihn. Narrare humanum est.

Krumm und gradlinig ist sein Lebensweg, der 1956 in Stuttgart beginnt. Mit 19/20 fängt er ein Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Heidelberg an, macht aber lieber Materialcollagen und ist dann Arbeiter, Fahrer und Gärtner, bis die Musik ihn findet und er von 1977 bis 1986 Musiker in Folk- und Jazzbands ist – mit Tourneen in Deutschland und nach Irland, Italien, in die Schweiz; Schallplatten, Entwurfsarbeiten für LP-Cover, Plakate und Buchumschläge werden produziert. Dazwischen liegt, von 1978 bis 1982, ein Kommunikationsdesigns- und Illustrationsstudium in Darmstadt mit Diplom, dann schließlich folgt der Zivildienst in Mannheim, und seit 1985 lebt und arbeitet Michel Meyer selbständig als freier Maler, Illustrator und Gestalter in Weinheim.

Die einzigartige Mischung aus Erlebtem, Erlerntem und Erdachtem macht den Reiz der Bilder Michel Meyers aus: Etwas von professioneller Gestaltung ist ebenso noch vorhanden wie die Fähigkeit zur Illustration, und alles zusammen wird durch den souveränen Umgang mit Ölfarbe – hauchzart einmal, dann wieder pastos aufgetragen, dazwischen immer wieder gespachtelt, gekratzt, sogar die Leinwand scheint verletzt – zu einem Bildereignis, das farblich klingt und zugleich dazu verführt, Geschichten zu sehen, zu hören oder selbst zu erfinden. Es ist, als müsse man den zeichnerischen Spuren, den Kratzern, Linien und Schraffuren ins Bildinnere folgen, um die Geschichten zu finden, die auch die Bildtitel wesentlich fordern. Sind das kleine Grotesken oder feine literarische Leidenschaften, die sich auftun könnten? Sind es sarkastische Stellungnahmen zu realen oder fiktiven Ereignissen? Oder in die Realität transponierte Phantasie? Oder in Kunst übertragene Träume? Geben die in manchen Arbeiten tatsächlich erkennbaren Buchstaben Hinweise auf die Bild-Geschichte, oder sind es nur Chiffren für mögliche Kommunikation? Warum haben dann manche Bilder keine Titel? Oder haben sie den Titel „Ohne Titel“?

Michel Meyers Mal- und Zeichenstil offenbart seine Leidenschaft für die Kunst; schwungvoll-fröhlich scheinen die Farben und Formen ins Bild gesetzt zu sein, doch dann erlischt ganz plötzlich die eben noch angenommene Fröhlichkeit. Das heitere Spiel ist beendet, und deutlich wird der ganz und gar ernsthafte Versuch, durch malerische Zeichen das Hintergründige unserer Welt aufzudecken, zu entlarven, zu erkennen. Seine Bilder sind Gedankenspiele, zunächst ein künstlerisches Spiel mit Farben, das dann immer mehr ein Spiel mit Zuständen und Befindlichkeiten, zu einem „Spiel im Ernst“ wird, wie Michel Meyer sagt. Die Bilder geben Assoziationen und Vorstellungen „von etwas“ wieder, sie lassen die Betrachter dieses „Etwas“ erahnen, doch zeigen sie es nie. Sie sind selbst bei der Verwendung von Figurationen keine realistische oder auch nur realitätsnahe Malerei. Die zum Teil großformatigen, farbintensiven, auf den ersten Blick abstrakten Bilder zeigen erst bei wiederholtem Hinsehen malerisch abstrahierte Figuren und Formen; auch Gegenstände werden immer wieder neu erkennbar. Das erzeugt die Spannung, mit der man Michel Meyers Bilder auf der Suche nach der nächstmöglichen Entdeckung betrachtet.

1990 stellte der englische Kulturtheoretiker John Berger in seinem Buch „Das Sichtbare und das Verborgene“ mit Recht fest, dass „Kunst dem Menschen in der modernen Welt helfen kann, seine sozialen Rechte einzufordern. Kunst ahmt die Natur nicht nach, sie ahmt eine Schöpfung nach – manchmal, um eine andere Welt vorzuführen, manchmal nur, um die kurze Hoffnung, welche die Natur bietet, zu erweitern, zu bestärken, gesellschaftlich zu machen. Kunst ist eine wohlgeordnete Antwort auf das, was uns die Natur gelegentlich ganz kurz wahrzunehmen erlaubt. Kunst versucht, die Möglichkeit des Wiedererkennens dauerhaft zu machen.“ Michel Meyer schafft in seinen Bildern Beispiele einer Wahrheit, wie sie so pointiert und bedeutungsvoll in der Alltagswelt nicht anzutreffen sind. Er stellt Bezüge zwischen Figurationen, Zeichen, Formen und Farben her, man erkennt Menschen, die miteinander im Gespräch scheinen, die hintereinander hergehen, die zusammensitzen, die soeben etwas ganz Großartiges oder ungeheuer Schreckliches erlebt haben, und immer gilt: In den Bildern sind sie malerisch frei und ins Unergründliche, Nichterkennbare und fast schon Abstrakte gesetzt.

Auf diese Weise erhalten Michel Meyers Arbeiten eine eindeutig ihm zuzuordnende Handschrift und durch die Konsequenz seiner künstlerischen Tätigkeit insbesondere in den vergangenen zehn Jahren künstlerische Gültigkeit, weil sich für die Betrachter immer wieder verändernde und neue Entdeckungen ermöglichende Bild-Geschichten offenbaren.

Darüber hinaus kommt es Michel Meyer grundsätzlich darauf an, dass die Formen und Farben in seinen Bildern an sich präsent und spürbar sind, dass ihre Ausdehnung gerechtfertigt ist. Es geht ihm darum, Farben und Strukturen zu zeigen, die in der Realität so nicht erfasst werden können, aber dennoch symbolhaft für Welt im allgemeinen, für unser Leben im besonderen sind. In seinen Bildern kann Michel Meyer die Suche nach Wirklichkeit selbst bestimmen, kann alles in die Verhältnisse bringen, die er selbst für notwendig hält. Zugleich ist das Rechteck der Leinwand für ihn eine eigene Bild-Welt, die er nicht verlassen kann, ein Raum, der einen Zugriff der Gleichzeitigkeit ermöglicht. Dabei geht es nicht um ein Abbild von etwas, sondern um das Bild an sich. Seine Malerei ist eine auf die Bildfläche komprimierte andere Realität als Mittel des persönlichen Ausdrucks, sie lässt Freiraum für eigene Erkenntnisse, Entdeckungen und Geschichten. Das Paradoxon seiner Kunst ist, dass sie die Betrachter in ihren Innenraum einlädt, damit sie von da aus die Welt betrachten können, denn die Welt mit mehr oder weniger Zuversicht zu verinnerlichen, entspricht einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis. Das einzige, was man dabei zu berücksichtigen hat, ist, dass Kunst eine Sprache ist, deren Grammatik und Vokabeln man lernen muss, denn auch die Bilder von Michel Meyer sind Bilder und keine Worte, wie wir sie landläufig verstehen. Es geht hier nicht um das, was man mit Worten beschreiben kann. Um diese Arbeiten zu erfassen, braucht es Wahrnehmung, Geist und Emotionalität. Sie sind keine Abbildungen von der bekannten Welt, sondern die Essenz von etwas: einer Idee, einer künstlerischen Wahrnehmung oder eines kreativen Prozesses. „Das Kunstwerk ist nur ein Anhalten im Werdenden und nicht ein erstarrtes Ziel“, hat El Lissitzky einmal formuliert.

Damit steht Michel Meyer durch seine Arbeit für einen Dialog des Betrachters mit der Kunst und mit sich selbst. Es wird deutlich, dass Malerei heute immer noch und auch in Zukunft ein bedeutender Weg ist, künstlerische Zeichen zu setzen, die begeistern, die Freude machen und deutlich zeigen kann, dass Kunst andere Aufgaben hat als gefällige Dekoration zu sein. Kunst ist Leben, sagte Joseph Beuys. Herman Nohl, einer der bedeutenden Reformpädagogen des vergangenen Jahrhunderts, der ein nach wie vor wichtiges Buch über das von ihm so genannte „Erzieher-Zögling-Verhältnis“ vorgelegt hat, sagte über Kunst: „Kunst ist ein Rausch am Leben, gespeist von allen vitalen Instinkten, und der ästhetische Zustand des Empfangenden ist nichts anderes als eine Erregung jener Sphären, eine Anreizung aller animalischen Funktionen durch Bilder und Wünsche gesteigerten Lebens, eine Erhöhung des Lebensgefühls.“

Aber das schnallt ja sowieso keiner in diesem müden, blöden Deutschland, wo schon wieder ein Manager beim Mogeln ertappt, wieder eine Bibliothek dichtgemacht, ein Theater geschlossen wird. (Hört, hört!) Was haben wir uns, angestrengt vom hektischen Alltag und vom Einkaufen kurz vor Ladenschluss, von Mozarts Adagio in G-Dur zur Entspannung streicheln lassen! (Die Abgeordneten fordern das scholastische Ritual!) Solcher Schwachsinn wird Folgen haben! (Tosender Applaus!) Einem Volk, das jede geistige Anstrengung zu vermeiden sucht, nur noch vorgekauten Brei zu sich nimmt, wird bald auf den Status eines geistigen Entwicklungslandes fallen! (Breite Zustimmung.)

Leider blendet das Licht so fürchterlich. Kann mal einer die Lampe wegtun? Was ist passiert? Nicht zu glauben.


Anmerkungen:

* Bei den hervorgehobenen Begriffen handelt es sich um Bildtitel von Michel Meyer. Vgl. dazu Museum der Stadt Ratingen, Galerie Helmut Leger, München (Hg.): Michel Meyer_Bilder_99_03, München 2003, sowie MD-Verlag- und Werbegesellschaft mbH (Hg.): Michel Meyer. Der Ahnungslose als Fallensteller. Neue Bilder, Berlin 2000.

** Michel Meyer, in: MD-Verlag- und Werbegesellschaft mbH (Hg.): Michel Meyer. Der Ahnungslose als Fallensteller. Neue Bilder, Berlin 2000, S. 2.

*** Vgl. Rolf Michaelis: Müdes, blödes Deutschland, in: DIE ZEIT vom 22. August 1996.