Rezension:
Ridvan Ciftci, Karl-Gustav Heidemann, Wilfried P. Schrammen (Hg.): Gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft. Schlaglichter aus 150 Jahren sozialdemokratischer Geschichte in Bielefeld, Bielefeld: Verlag und Druck: Gieselmann Druck und Medienhaus GmbH & Co. KG, 2018 – 228 S., ISBN 987-3-946410-04-1, 17,00 Euro

in: Ravensberger Blätter. Organ des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg e.V., Zweites Heft 2018, S. 51–53.

Andreas Beaugrand

Die drei Herausgeber Ridvan Ciftci, Karl-Gustav Heidemann und Wilfried P. Schrammen legen einen Sammelband über 150 Jahre SPD-Geschichte in Bielefeld vor. Anlass war vor 150 Jahren die Gründung einer Bielefelder Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Jahre 1868. Auf nationaler Ebene hatte Ferdinand Lassalle bereits fünf Jahre zuvor die Arbeitervereinigung begründet.
Etwas mehr als ein Jahr hat sich seit Herbst 2017 eine Reihe von offenbar nach wie vor enthusiastischen Bielefelder Sozialdemokraten dieser Geschichte rein ehrenamtlich gewidmet. Um es gleich vorweg zu sagen: Wirklich grundstürzende neue Informationen enthält der Sammelband nicht. Das war aber auch nicht beabsichtigt. Vielmehr macht der Band eine Art „Inventur“, indem die vorliegende Literatur und die aufbewahrten Quellen, die verstreut waren, nun gebündelt vorgestellt und ausgewertet werden. Vielfältige, über Jahrzehnte erfolgte Forschungen wurden zusammengefasst und kompiliert.
Trotz der derzeitigen Krise der Volksparteien im Allgemeinen und der der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Besonderen stellt die SPD in Bielefeld doch ein besonderes politisches Gewicht dar und ist historisch von einem „anderen Kaliber“, auf das der Oberbürgermeister Pit Clausen (S. 7) und die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles in ihren Grußworten hinweisen (S. 9 f.). Am vorliegenden Buch sind durch Biografie und Bildung ausgewiesene Spezialisten und überzeugte Kenner der Bielefelder SPD-Materie ans Werk gegangen – wie ein Blick ins Autorenverzeichnis (S. 225) belegt: Die einzige Autorin und die Autoren sind sozialdemokratisch sozialisiert oder politisch parteinah positioniert – also ein Buch der SPD für die SPD?
Nur zum Teil.
Die Beiträge berufen sich auf zumeist bekannte Quellen im Stadtarchiv und in der vorhandenen Literatur. Sie beschäftigen sich mit den „üblichen Verdächtigen“ wie die „alten Genossinnen und Genossen“ Friederike „Frieda“ Nadig (1897–1970), Else Zimmermann (1907–1995), Elfriede Eilers (1921–2016), Heinz Hunger (1938–2008) oder Klaus Schwickert (*1931), dessen aktuelles Interview sehr lesenswert ist (S. 211 ff.) – sowie mit den allseits bekannten SPD-Gebäuden und -Arealen wie Volkswacht, Turnhalle Ost, Eisenhütte (Marktstraße), Wohnsiedlung Heeper Fichten, das Rütli oder Haus Neuland (S. 219 ff.).
Doch trotz des eher konventionellen (chronologischen) inhaltlichen Ablaufs von 1848 bis (weitgehend) in die „Gegenwart“ (der letzte Beitrag von Wilfried P. Schrammen behandelt die kommunale Neuordnung von 1972/1973!) scheint gleichsam zwischen den Zeilen Neues und tatsächlich heute Aktuelles hervor:
So behandelt Bärbel Bitter in ihrem nicht ganz leicht lesbaren Aufsatz die „Frauen in der Bielefelder Sozialdemokratie“ (S. 45 ff.) und Bernd J. Wagner kenntnisreich und mit gewohnt kritisch-spitzem Akzent die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Wagner kristallisiert deutlich heraus, was sozialdemokratische Politik vor und nach dem Ersten Weltkrieg ausgemacht hat und warum die SPD von vielen gewählt wurde. Sie hatte glaubwürdige Alleinstellungsmerkmale im politischen Raum zwischen undemokratischer Räterepublik auf der einen Seite und bürgerlicher Mitte und undemokratischer Rechte auf der anderen Seite. Diese Besonderheiten sind der Partei inzwischen verlorengegangen und/oder in den Programmen anderer Parteien aufgegangen. Hier könnten die Folgen des Godesberger Programms 1959, die Abkehr von der „Kampf dem Atomtod“-Kampagne oder später Schröders „Hartz-IV“-An- oder Absage 2003 einmal mehr diskutiert werden. Man fragt sich, was die SPD heute noch auszeichnet und schaut auf der Suche nach Spuren der Geschichte noch einmal ins neue Buch:
Erfrischend und absolut kenntnisreich sind hier die Beiträge des „jungen“ Juristen Ridvan Ciftci über den Arbeitersport (S. 107 ff.), die Arbeiterjugendbewegung (S. 125 ff.) und die SPD-Jugend der „langen“ Nachkriegszeit (späte 1940er und 1960er Jahre, S. 179 ff. und S. 185 ff.). Sorgfältig recherchiert und formuliert sind wie immer die Texte von Joachim Wibbing (S. 141 ff.), von dem inzwischen selbst legendären „Altachtundsechziger“ Karl A. Otto (S. 155 ff.) und vom kritischen Journalisten und Filmfreund Frank Bell (S. 163 ff.).
Bei der Recherche wurden auch Zeitungen ausgewertet, die nicht Bestandteil der Westermann-Sammlung im Bielefelder Stadtarchiv sind. Bisher hatte man grundsätzlich mehrere Bücher und Quellen zu konsultieren, um sich ein Bild von der Bielefelder SPD-Geschichte zu machen. Das war genau das Defizit, auf das „SPD-Urgestein“ Elfriede Eilers immer wieder hingewiesen hat. Sie vermisste ein Buch, das sich mit der SPD in Bielefeld beschäftigt. Dieses Buch liegt jetzt vor – wenn auch mit Defiziten:
Das für die Sozialdemokratie typische Milieu scheint zwar durch, ist jedoch nur am Rande thematisiert worden. In der Auflösung dieses Milieus liegt vermutlich der Niedergang der Partei begründet, das weitaus mehr ist als nur Arbeitersport und -jugend. Ureigentliches sozialdemokratisches Terrain sind die Genossenschaft, der Konsum, die Gewerkschaften, die Arbeiterwohlfahrt und vieles mehr gewesen, die es heute so nicht mehr gibt und für die es alternative politische Themen und neue soziale Positionen (etwa zu Kriminalität, innerer Sicherheit, Umgang mit Drogen etc.) geben müsste, deren Entwicklung aber im alltäglichen Krimskrams „gegen oder mit der Industrie?, „für oder gegen den Dieselskandal?“, „für oder gegen Hartz IV?“ und in persönlichen Rangeleien und Machtkämpfen steckengeblieben sind.
Hinzu kommt, dass die Gestaltung des Bandes eher etwas „lustlos“ wirkt, sodass sich wirkliche Freude am und beim Lesen nicht einstellen will, obwohl es sehr anerkennenswert ist, dass sich Verlag, Druck und Medienhaus des alten Sozialdemokraten Hans Gieselmann und seiner Tochter Henrike einmal mehr engagiert haben. Wünschenswert zur weiteren Orientierung wäre eine Zusammenstellung markanter Ergebnisse der Bielefelder SPD bei Reichs-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen gewesen. Ebenso desiderabel wäre eine etwas „straffere Hand“ der Herausgeber für eine Vereinheitlichung der verschiedenen Beiträge hinsichtlich der „handwerklichen“, stilistischen und methodischen Vorgehensweise gewesen.
Die „Festschrift“, die angesichts des wenig festlichen Layouts bedauerlicherweise keine ist, kann und will eine neue wissenschaftliche Studie über die Geschichte des Auf- und Niedergangs des sozialdemokratischen Milieus in Bielefeld nicht ersetzen. Sie stellt vielmehr eine chronologisch orientierte Selbstvergewisserung des Geschehenen dar.