Auszug aus:
Andreas Beaugrand (Hg.): Die Alte Ziegelei Westeregeln. Geschichte und Geschichten vom Kalkberg, Oschersleben 2015.
„Mit Zieglergruß und Handschlag drauf“
Das Westeregelner Ziegeleiprojekt
Andreas Beaugrand
„Westeregeln ist ein Ortsteil der Gemeinde Börde-Hakel und liegt am nordwestlichen Rand des Salzlandkreises in Sachsen-Anhalt. Der Ort liegt im Tal der Bode, etwa auf halbem Weg zwischen Magdeburg und Halberstadt.“ So heißt es vergleichsweise lapidar im Onlinelexikon Wikipedia, und auf der gemeindeeigenen Website findet man nicht viel mehr. Man kann nicht sagen, dass Westeregeln weithin bekannt ist.
Dennoch: Dieser kleine Bördeort verfügt gut ein Vierteljahrhundert nach der deutsch-deutschen Vereinigung über eine einmalige Besonderheit. Hier befindet sich das bis heute weitgehend sanierte Bau- und Industriedenkmal Alte Ziegelei Westeregeln aus dem späten 19. Jahrhundert.
Die Sanierung und Erhaltung dieser alten Ziegelei mit ihrer bemerkenswerten Technik, dem vermutlich längsten Hoffmannschen Ringofen Europas, dem außergewöhnlichen Geo- und Biotop und ihrer wohl einmaligen paläontologischen Fundstätte ist der Sozial-Aktien-Gesellschaft Bielefeld (SAG) seit 1997 vor allem deshalb gelungen, weil sie von Anfang an mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus Westeregeln, aus den benachbarten Städten und Gemeinden und mit Freunden und Förderern aus Ost- und Westdeutschland zusammengearbeitet hat, um hier als gemeinnütziges Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsprojekt eine Museumsziegelei aufzubauen. Das ist vor allem deshalb ein vielbeachteter Erfolg – nicht nur baulich, sondern auch menschlich –, weil es heutzutage zutiefst Trennendes zwischen Ost und West nicht mehr gibt, selbst wenn dieses Thema auch 2016 immer noch durchaus kontrovers diskutiert wird und durch „Pegida“-Dummheit und „AfD“-Ideologie immer neue Blüten treibt.
In der Alten Ziegelei Westeregeln gelang es bis heute, viele, viele Jahre nach dem historisch einmaligen Ereignis, als DDR-Bürger die friedliche Revolution und mit der Öffnung der Mauer das Ende der DDR – des „Flüster-Reichs“, des „Psst-nee-frag-lieber-nicht-Staates“ – einläuteten, der zusehends schwindenden Erinnerung, dem „Verdrängen und Verklären“ der Vergangenheit und der damit verbundenen Legendenbildung entgegenzuwirken und gegenwartsbezogen zu vermitteln, was Leben und Arbeiten in einer ostdeutschen Ziegelei bedeutete.
Im Anfang 2015 erschienenen und 552 Seiten umfassenden Buch wird die Geschichte der Alten Ziegelei Westeregeln im Kontext der Entwicklung des kleinen Bördeortes Westeregeln von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert über die Zeit der Industrialisierung im Kaiserreich (1871–1918), die Zeit der Weimarer Republik (1919–1933) und die Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) über die Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ, 1945–1949) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR, 1949–1989) bis hinein in die Zeit der neuen Bundesrepublik Deutschland (seit 1989/1990) aufgearbeitet. Das Buch bietet auf diese Weise eine Grundlage für kollektive und individuelle Erinnerung am Beispiel eines ehemals betrieblichen und heute soziokulturellen Mikrokosmos in der Magdeburger Börde.
Es geht damit in diesem Buch weniger um die rein technische Seite des Ziegeleiwesens, die vielfältig dokumentiert ist, und auch nicht um eine von vielen Ziegeleien, die bereits zu DDR-Zeiten einen musealen Industriedenkmalcharakter hatten und im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ als „touristisch interessant“ eingestuft wurden. Es geht hier vielmehr darum, in Westeregeln und zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern – und zugleich für sie einen Ort der Identifikation zu schaffen, der ihnen die Auseinandersetzung mit der industriellen und wirtschaftspolitischen Vergangenheit und zugleich einmalige Einblicke in die Ziegeleigeschichte ermöglicht, verbunden mit der Entdeckung eines großartigen Ziegeleiareals mit seinen vielfältigen technikgeschichtlichen, geologischen und biologischen Facetten.
Mit dem Ensemble der Alten Ziegelei Westeregeln ist es in den letzten Jahren gelungen, den „romantischen Verfall“ zu verhindern, den etwa der Dresdner Fotograf Burkhard Schade in „vergessenen Orten zwischen Dresden und Meißen“ während der letzten Jahre dokumentiert hat. Eindrücke davon, wie eine ostdeutsche Ziegelei aus dem 19. Jahrhundert heute aussehen kann, vermittelt Schade neoromantisierend unter anderem am Beispiel des Ziegelwerks Rotes Haus in Meißen, in dessen „alten Hauptgebäude … noch immer der mächtige Ringofen mit seinem komplizierten Beheizsystem bewundert werden“ kann. Im Gegensatz dazu erweist sich die Alte Ziegelei Westeregeln heute als ein Ort, in dem die Besucherinnen und Besucher begeistert die Sanierungsfortschritte in Augenschein nehmen und zugleich eine Atmosphäre erleben können, die in dieser Form einmalig ist.
Die Autorinnen und Autoren des Buches haben die Entwicklung des kultur- und technikgeschichtlichen Areals der Alten Ziegelei Westeregeln aus geschichts- und sozialwissenschaftlicher, technikgeschichtlicher, journalistisch-literarischer, geologischer, biologischer und paläontologischer Perspektive bearbeitet und zeigen in ihren Beiträgen, was die hier tätig gewesenen und tätigen Menschen bis in die Gegenwart geleistet und ermöglicht haben, was ihnen widerfahren und „oben auf dem Kalkberg“ begegnet ist.
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