Karen Stuke. Die Trilogie der schönen Zeit, oder: Warten macht mir nichts aus.


Zur Camera obscura-Fotografie von Karen Stuke

Andreas Beaugrand

Die als Kunstbuch vorliegende „Trilogie der schönen Zeit“(1) der Fotografin Karen Stuke stellt drei selbstständige und in sich abgeschlossene Werkgruppen aus den letzten zehn Jahren vor, die in Ausstellung und Publikation einen gemeinsamen künstlerisch-konzeptuellen Rahmen bekommen: Vorgestellt werden ihre Theaterbilder (im Buch – bis auf eine Ausnahme – bühnengleich am oberen Buchrand wiedergegeben), ihre Schlafbilder (jeweils am unteren Buchrand gleichsam ruhend platziert) und ihre grundsätzlich ganzseitig abgebildeten Bilder der Großstadt, die mit Charles Chaplins großartigem Stummfilm von 1931 „City Lights – Lichter der Großstadt“ benannt sind.
Die im Ausstellungs- und Buchtitel anklingende Dreiteiligkeit von weiten Reisen, konzentriertem Wahrnehmen und entspanntem Ruhen wird im Untertitel durch eine literarische Bemerkung unterstützt, die von der Romanfigur „Momo“ stammt. Sie ist die Protagonistin im 1973 erschienenen Roman „Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“ des Schriftstellers Michael Ende (1929–1995). Momo ist das kleine Mädchen mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren, das eines Tages im Amphitheater auftaucht, Zeit hat, so gut zuhören kann, damit andere tröstet und schließlich hilft, den Zeitdieben das Handwerk zu legen.
Bereits an dieser Stelle wird damit deutlich, dass es sich bei der Fotografie Karen Stukes nicht um eine dokumentierende oder sachlich-analytische Reportagefotografie handelt, sondern um eine ebenso fantasievolle wie emotionale Kunst, die auf der Basis humanistischer Bildung die Inhalte kulturellen Lebens in Geschichte und Gegenwart mit dem technischen Mittel der Fotografie interpretiert. Das macht die Künstlerin mit dem wohl ältesten „technischen“ bildgebenden Mittel überhaupt: der Camera obscura.
Seit Studientagen arbeitet Karen Stuke mit dieser Kamera, jenem historischen Apparat, mit dem man „auf dem Kopf stehende Bilder“ herstellen kann, wenn Licht durch ein kleines Loch auf die gegenüber liegende Seite der „dunklen Kammer“ fällt. Die ersten Beobachtungen in einer Art Camera obscura dürften schon die Höhlenmenschen durch Zufall gemacht haben, wenn in ihrer Höhle durch ein Loch hindurch die bewegte Abbildung der Außenwelt entstand. Im 4. Jahrhundert vor Christus beobachtete Aristoteles (384–322 v. Chr.), während einer Sonnenfinsternis unter einem Baum sitzend, dass die kleinen Lücken zwischen den Blättern jeweils ein spiegelverkehrtes Abbild der Sonnensichel auf den Boden projizieren. In seinem Werk „Problemata physica“ beschreibt er diese Erscheinung und damit das Grundprinzip der Camera obscura; er erkannte, dass das Licht von der Sonne zum Loch und von diesem zur Erde einen Doppelkegel bildet und deshalb die Sonnensicheln auf dem Kopf stehend abgebildet werden.(2) Auf diesem Wissen fußen auch die ersten europäischen Beobachtungen im Mittelalter: Unter anderem befassten sich Roger Bacon (1214–1294) mit der Camera obscura, ebenso Petrus von Alexandrien in seiner Schrift von 1342(3) und auch – selbstverständlich! – Leonardo da Vinci (1452–1519).(4) 1540 baute Erasmus Reinhold in Wittenberg eine Camera obscura zur Beobachtung von Sonnenfinsternissen und erkannte dabei, dass das Bild umso schärfer, aber auch lichtschwächer ist, je kleiner das Loch ist. Er stellte weiter fest, dass höhere Helligkeit bei bleibender Schärfe durch Sammellinsen erreichbar ist.(5) Die Camera obscura mit Linsensystem fand schließlich zur Zeit der Renaissance durch Künstler und Wissenschaftler wie Giovanni Battista della Porta (1538–1615) oder – als Zeichenhilfe – durch den Venezianer Daniele Barbaro mit seiner Schrift „La pratica della prospeltiva“ ab 1568 eine weite Verbreitung.(6) In dieser Weise erprobten auch Johannes Kepler (1571–1630) und der Engländer Robert Hooke (1635–1703) die Apparatur. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nutzten auch Maler eine Version mit auf der Kamera angebrachtem Spiegel als Zeichenhilfe, um die abgebildete Umwelt möglichst genau ins Bild setzen zu können.(7)
Karen Stuke hingegen verwendet den historischen Apparat in seiner ursprünglichen und damit einfachsten Form – ohne Linse, als Lochkamera. Das Loch der Kamera lässt im Idealfall von jedem Punkt eines Gegenstands einen Lichtstrahl durch. Die für Fotografen als Nachteil empfundene, von Karen Stuke jedoch als bildgebendes Element genutzte Eigenheit dieses sehr einfachen Prinzips ist die geringe Lichtstärke, die davon herrührt, dass das Loch sehr klein und an den Rändern präzise geschnitten sein muss,(8) damit die Abbildung gelingt.
Auf ihren Reisen zur Kunst und zu den „Brettern, die die Welt bedeuten“ – Karen Stukes zweite Leidenschaft von Kindesbeinen an –, die sie seit vielen Jahren kontinuierlich unternimmt, ist ihre Kamera immer dabei: Die Fotografin ist international unterwegs, um Opern- und Theaterinszenierungen zu erleben, fotografisch in ihrem Stil festzuhalten und der Idee der auf diese Weise begleiteten Inszenierung ein neues Bild zu geben. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat in seinen „Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie“ über Fotografie das Folgende geschrieben: „Es könnte Menschen geben, die in einer Photographie höchstens eine Art Diagramm sähen, wie wir etwa eine Landkarte betrachten; wir können daraus verschiedenes über die Landschaft entnehmen, aber nicht z. B. die Landschaft beim Ansehen der Karte bewundern, oder ausrufen ‚Welch herrliche Aussicht‘.“(9) Wittgenstein beschreibt das Verhältnis zwischen dem Empfinden einer Situation und der Betrachtung ihres Abbildes und vergleicht die Fotografie mit einer Landkarte, bei der Wissen, Erfahrung, Gefühl, Interesse, Erinnerung und Konvention erforderlich sind, um sie gänzlich zu verstehen – vorausgesetzt die Kenntnis des jeweils Gesehenen. Damit erhält die künstlerische Fotografie Karen Stukes – wie die Landkarte in Wittgensteins Beispiel – eine Bedeutung, die über ihre Funktion als bloßes Abbild hinausgeht, denn Künstlerin wie Betrachter werden in die Lage versetzt, immer wieder neue, individuell verschiedene, von der jeweiligen Verfassung abhängige Zusammenhänge aus dem Bild zu entnehmen.
Jede der Fotografien Karen Stukes – mit der Camera obscura so lange belichtet, wie eine Theater- oder Opernvorführung dauert und damit „festgehalten“ – ist auf diese Weise die „Visuelle Essenz“ eines ganzen Librettos mit theatralischer und musikalischer Komposition, mit dem Bühnenaufbau, der Dekoration, der Regie, der Architektur des Raums und der ganzen mit Alledem verbundenen Atmosphäre. Gleiches gilt für ihre Reisen dorthin, die sie in ihren Reisebildern festhält: die Fahrt, das Ankommen in der zunächst fremden Stadt, das erste Kennenlernen, das reizvolle Erleben, vielleicht schließlich das Wohlfühlen und das dauernde Gefühl der Fremde in der unbekannten Stadt. Es gilt auch für die Zeiten der Ruhe, an die sie mit ihren Schlafbildern erinnert, die Erlebtes und Erfahrenes, Gedachtes und Geträumtes enthalten, ohne dass dies sichtbar wäre.
So entstehen durch Karen Stukes kulturelle Reisen beeindruckende Werke künstlerischer Fotografie – eine Disziplin, die sich seit der Zeit ihres Bestehens erst langsam in der Kunstgeschichte etabliert: Eine erste Fotografie entstand Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Bemühen, mit der Kamera die Malerei zu imitieren. Die Anfänge von Fotografie mit künstlerischer Ambition setzen stilistisch in der Kunst „des späten Biedermeier“, also in der Zeit zwischen 1815 (Wiener Kongress) und 1848 (Beginn der bürgerlichen Revolution in den Ländern des Deutschen Bundes) an, deren Ziel die möglichst authentische Darstellung der Wirklichkeit war. Zugleich aber wurden die neuen Bilder unschärfer gemacht oder in Studios Menschen in malerischen oder romantisierenden Umgebungen abgebildet. Schließlich war die Fotografie als „Momentfotografie“ stilbildend für den Impressionismus, dessen erste Ausstellung im Atelier eines Fotografen stattfand: bei Nadar, eigentlich Gaspard-Félix Tournachon (1820–1910).
Die jüngere Differenzierung zwischen „künstlerischer“ und „angewandter“ Fotografie hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. 1966 etwa wurde die erste Fotografieprofessur an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) Hamburg eingerichtet und mit Kilian Breier, dem Wegbegleiter der Bielefelder Generativen Fotografen, besetzt. Die Düsseldorfer Kunstakademie richtete 1976 mit der Fotoklasse Bernd Becher (1931–2007) einen künstlerischen Lehrstuhl ein. Erst allmählich entstand so ein Bewusstsein für Fotografie als Teil der Künste und ein Berufsfeld, das ganz auf den Kunstmarkt ausgerichtet war. Karen Stuke arbeitet „dazwischen“ – zwischen professioneller Theaterfotografie und künstlerischer Interpretation. Mit einer der ältesten bildgebenden Techniken beobachtet Karen Stuke unsere gegenwärtige Welt mit ihren Formen der Kultur am Beispiel von Oper und Theater und erzeugt in einer Zeit der schnelllebigen Bildervielfalt Werke zeitgenössischer Fotokunst. Ihre Kunst ist damit – um mit dem Dichter, Künstler und Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910) zu sprechen – die „Offenbarung einer geheimnisvollen Idee“, eine „Äußerung von Emotionen durch äußere Zeichen“ und ein für das Leben und das Glücksstreben des Menschen unentbehrliches Kommunikationsmittel.“(10) Auf diese Weise schafft Karen Stuke es, nicht auf spektakuläre kurzfristige Berühmtheit hin ausgerichtete Fotografien zu erarbeiten, die in ihrer eindringlichen Überzeugungskraft und Leidenschaft die Konventionen üblicher Theater- und Reisefotografie sprengen.(11) Ihre ebenso themen- wie gegenstandsbezogene Kunst visualisiert nicht zuletzt auch durch den Gebrauch der alten Camera obscura-Technik den Übergang von historischer zu moderner, zeitgenössischer Bild-Bedeutung, wie sie etwa Vilém Flusser in seiner 1994 posthum veröffentlichten Schrift „Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung“ skizziert hat: „Die alten Bilder bedeuten Dingwelt und / oder das Subjekt dieser Dingwelt, die neuen bedeuten Gleichungen, Kalkulationen. Die alten Bilder sind Ab-bilder von etwas, die neuen sind Projektionen, Vor-bilder für etwas, das es nicht gibt, aber geben könnte. Die alten Bilder sind ‚Fiktionen‘, ‚Simulationen von‘, die neuen sind Konkretisationen von Möglichkeiten. Die alten Bilder sind einer abstrahierenden, zurücktretenden ‚Imagination‘, die neuen einer kontretisierenden, projizierenden ‚Einbildungskraft‘ zu verdanken. Wir denken also nicht etwa imaginativ magisch, sondern im Gegenteil einbildend entwerfend.“(12)Die fotografischen Arbeiten Karen Stukes veranschaulichen genau dies: Sie schafft innerhalb des Genres „Reise- und Theaterfotografie“ eine eigenständige Kunstform, die weder der Dokumentation von Reisen, noch der Werbung für das Theater dient, sondern dem Festhalten des künstlerischen Ausdrucks, der gesamten Darstellung, der Umsetzung des Themas und der Bühnengestaltung. Sie leistet damit handwerklichen Widerstand gegen die verwirrende virtuelle Scheinbarkeit und gegen den sterilen schönen Schein medialer Gestaltung. Auf diese Weise wird das immer ambivalente Verhältnis von Wirklichkeitsempfindung, Kunst und Nachahmung neu thematisiert. Was bei der Betrachtung dieser Arbeiten zunächst entsteht, ist Irritation: Das vermeintlich Bekannte und Vertraute wird in ihren Bildern zu einer neuen, bisher unbekannten Wirklichkeit, die dem gewohnten Wissen und „der Vernunft ... Ärgernisse in den Weg (stellt), damit die Nachdenklichkeit nicht ganz von den Sachzwängen des (alltäglichen) Handelns überrollt werde,“(13) damit Zeit für den Genuss bleibt.

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Anmerkungen:
1) Trilogie: aus dem Griechischen, trilogía, tri = „drei“, logía = „Werk“.
2) Hellmut Flashar (Hg.): Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 19: Problemata Physica, Berlin 1997, S. 37 ff.
3) Vgl. dazu im Allgemeinen Curt Friedlein: Die Philosophie der Scholastik, in: Ders.: [kursiv|Geschichte der Philosophiev, Berlin 1984, S. 103–117, dort auch weiterführende Literatur.
4) Zum Kontext vgl. Michael White: Leonardo da Vinci. Der erste Wissenschaftler. Eine Biografie, Berlin 2004.
5) Vgl. dazu ausführlich Hans-Joachim Seidel, Christian Gastgeber: Wittenberger Humanismus im Umkreis Martin Luthers und Philipp Melanchtons. Der Mathematiker Erasmus Reinhold d. Ä., in: Biblos 46 (1997) 1, S. 19–51.
6) Siehe dazu allgemein Lothar Schäfer, Elisabeth Ströker: Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Technik, Bd. 2: Renaissance und frühe Neuzeit, Freiburg 1999.
7) Leonhard Schmeiser: Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, München 2002, S. 187 ff.
8) Für Karen Stuke erledigt das ein Goldschmied.
9) Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Band VII, Frankfurt 1984, S. 41.
10) Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Was ist Kunst?, in: Über Literatur und Kunst. Auswahl und Nachwort von G. Dudek, Frankfurt 1980, S. 46.
11) Ähnlichkeiten mit Arbeiten des 1948 in Tokio geborenen und heute in New York arbeitenden Fotografen Hiroshi Sugimoto, sind, wie Kritiker feststellten, vorhanden, aber nicht beabsichtigt und für Karen Stuke darüber hinaus durchaus schmeichelhaft, wie sie bei einer Begegnung mit dem Künstler im Sommer 2007 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf feststellen konnte, zumal sie – im Gegensatz zu Sugimoto – die ganze Inszenierung im farbigen fotografischen Bild festhält.
12) Vilém Flusser: Schriften, Band 3, Bensheim/Düsseldorf 1994, S. 25.
13) Beat Wyss: Trauer der Vollendung, München 1985, S. 327.