Karl Manfred Rennertz


Atelier. Industrie: Wasser, Feuer, Holz: Karl Manfred Rennertz im Schiffshebewerk Henrichenburg am Freitag, 9. Mai 2008, 19.30 Uhr (Manuskriptauszug)

Andreas Beaugrand


Seit der Renaissance, als man den Menschen als Maß aller Dinge zu begreifen begann, spielte die Frage, wie man eine Figur dreidimensional und perspektivisch darzustellen hat, in der Kunstgeschichte eine zentrale Rolle; Michelangelos „David“, den er zwischen 1501 und 1504 in Florenz angefertigt hat, spricht hier Bände. Wesentlich dabei ist, dass jede dreidimensionale Kunst, gleichgültig, ob es sich um eine Skulptur (von lateinisch „sculpere“: schnitzen) oder eine Plastik (von griechisch „plassein“: formen, bilden) handelt, eine Rundumansicht ermöglichen und ihrerseits einen stimmigen Bezug zum umgebenden Raum haben muss.
Damit ist das Augenmerk auf eine für diese Kunst wichtige Differenzierung gerichtet, die im allgemeinen Sprachgebrauch allzu oft in Vergessenheit gerät: Nicht jedes dreidimensionale künstlerische Objekt ist eine Plastik oder eine Skulptur. Vielmehr sind beide Bezeichnungen Gattungsbezeichnungen, die die Bildhauerkunst jeweils nach der zugrunde liegenden Technik unterscheiden. Bei der Plastik wird weiches Material aufgetragen, mo­delliert, ge­formt oder – wie beim Metall- oder Bronzeguss – in hitzefeste Mantelformen gegossen; die Skulptur wird aus hartem Material herausgeschlagen oder geschnitten.

Zunächst einige biografische Notizen von Karl Manfred Rennertz: Geboren 1952 in Eschweiler im Rheinland; 1971 Abitur; 1972–1978 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Irmin Kamp und Prof. Alfonso Hüppi, der übrigens ebenfalls in Baden-Baden lebt und Vater von Johannes Hüppi ist. 1976 Meisterschüler bei Alfonso Hüppi; 1. Staatsexamen für Kunsterziehung an Gymnasien   Seit 1981 Atelier in Baden-Baden; 1983 Atelier in New York; Mitglied im Deutschen Künstlerbund;1984 Arbeitsaufenthalt in New York; 1986–988 Reise nach Indien (Neu Delhi), Arbeitsaufenthalte in Zürich, Luxor (Ägypten), Künstlerhaus Bethanien, Berlin; 1989 Villa-Massimo-Stipendium, Rom; 1991 Arbeitsaufenthalt in Salzburg; seit 1992 Brandaktionen; 1995 Gastprofessur an der Kunstakademie Bremen, 1999/2000 Gastdozent im Fach Bild­hauerei, Fachhochschule Pforzheim, seit 2004 Professor für Bildhauerei, FH Detmold; seit 1996 Erster Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde junger Kunst Baden-Baden; Karl Manfred Rennertz lebt und arbeitet in Baden-Baden, Detmold und Zürich.

Dieser Karl Manfred Rennertz widmet sich also seit fast 30 Jahren einer der drei klassi­schen Gattungen der Kunst und hat den historischen Streit seit der Renaissance, welcher der bildenden Künste die Führung zukäme – Bildhauerei, Malerei oder Architektur –, für sich zugunsten der Bildhauerkunst entschieden. Verbindlich ist für Karl Manfred Rennertz nach meiner Überzeugung das Grundverständnis, dass wirklich künstlerische Innovation nur aus der kreativen Auseinandersetzung zwischen der gestalterischen Absicht und der ursächlichen permanenten Materialerfahrung er­wächst. Seine Kunst ist offen gegenüber anderen Kunstdisziplinen – die man ja als Künst­ler und Hochschullehrer kennen sollte! –, offen gegenüber Phänomenen der Gesellschaftsentwicklung, in der Wissenschaft und der der Lehre, wie sein Engagement als freischaffen­der Künstler und Kunstvermittler beweist.
Entscheidend ist weiterhin, dass Karl Manfred Rennertz die Fläche, die skulpturale Form, die große Raumform beherrscht, und damit ist seine künstlerische Arbeit eine der Unter­schiede, ein Begreifen des Materials und des bildhauerischen Handwerks.

Auf diese Weise entstehen bei wahrhaftig lautstarker Arbeit mit der Motorsäge, Axt und Beil kunstvolle Objekte aus ganz verschiedenem Anlass – hier in Henrichenburg auch durch die „Revitalisierung“ der durch den „Kyrill“-Sturm im Frühjahr 2007 zerstörten Linden aus der Zeche Zollern II/IV in Dortmund-Bövinghausen. Es entstehen skulptu­rale Objekte also, die der Künstler aus unserer alltagsweltlichen Konvention herauslöst, die er verändert und frei zu neuen ästhetischen Gebilden macht, die im wahrsten Wortsinne ge­genständlich und zu­gleich abstrakt sind. Die Bildhauerkunst von Karl Manfred Rennertz versucht die Wirklichkeit nicht abzubil­den, sondern zu benutzen und durch Verfremdung bewusst zu machen – eine künstlerische Intention, die seit dem Spätmittelalter und der italienischen Renaissance Tradition hat, denn erst seit dieser Zeit setzte sich auch das unge­fasste, d.h. das farblich nicht wesentlich veränderte Kunstwerk durch: Das Material wurde als ein eige­ner ästheti­scher Wert erkannt und ge­zielt für die künstlerische Wirkung eingesetzt. Waren es früher die vornehmsten Materia­lien Marmor und wertvolles Metall, sind es hier Holz, Feuer und ein wenig akzentuierende Farbe.

Im Außenbereich, dort, wo Karl Manfred Rennertz sein Boot mit dem Titel „Die Hen­richenburg“ erarbeitet hat, stehen die Boote und eine größere betretbare Hohlform unter dem Ladekran. Das Thema „Hohlform“ hat der Künstler in dieser hier und heute zu eröffnenden Präsentation aufgegrif­fen, denn – so frage ich Sie –, was wäre für ein Schiffshebewerk geeigneter? Und: Was anderes als eine Hohlform ist ein Boot?
So ist hier eine ganz andere Konstellation entstanden, als sie im Rahmen der LWL-Gesamtkonzeption etwa 2007 in der Zeche Zol­lern oder in der Glashütte Gernheim oder Anfang 2008 im Textilmuseum in Bocholt zu sehen waren. Das ist es, was Karl Manfred Rennertz wollte: mehrere Standorte und immer eine andere Wirkung. Die Situationen und die Skulpturen wandeln sich, die künstlerischen Arbeiten werden über die Orte neu definiert, der ehemalige Industrieraum wird zum Kunstraum und dadurch in gewissem Sinne durch die Ausstellungsbetrachter neu vermessen – die Räume und Relationen verän­dern sich – mit der Zeit, jenem Phänomen, von dem ich eben schon sprach und auf das ich gleich noch einmal zurückkomme.

Karl Manfred Rennertz’  Objekte gewinnen ihre Größe und Ausdruckskraft aber nicht nur durch ihre dreidimensio­nales Volumen, sondern durch ihren hohen Grad an Anschaulichkeit – in der Nachvollziehbarkeit des Entstehungsprozesses, den er in seinen Performances ja auch vorführt wie in der erkennbar werdenden Harmonie zwischen dem einst gewachse­nen Baum und der daraus entstandenen Komposition, die die Betrachter als Kraft oder Energie, als künstlerische Kraft, die vom Kern nach außen zu drängen scheint, spüren kann und die von in­nen heraus die lebendige Spannung und die Gesamterscheinung auch der Kunstwerke dieser Ausstellung im Schiffshebewerk Henrichenburg be­stimmt.
Darüber hinaus werden bei der Betrachtung seiner Objekte auch Aspekte des Malerischen offen­sichtlich. Licht und Schatten werden zu einem wesent­lichen Erscheinungsmerkmal des Ob­jekts. Hinter­schneidungen und Bearbeitungsspuren im Holz heben sich als changierende Dunkelzonen von den jeweils im Licht lie­genden Teilen ab. Das Volumen des Objekts, seine verschiedenen Oberflächen und seine Kontur verbinden sich zu einem ausdrucksstarken Ganzen, das sich dem Betrachter nur vollständig erschließt, wenn er das Objekt aus verschiedenen Perspektiven möglichst zu verschiedenen Zeiten gesehen hat, es also mehrfach umschritten hat. Dies gilt für alle freistehen­den Arbeiten von Karl Manfred Rennertz, die – wie die Kunsthistoriker formulieren – unbe­grenzt vielan­sichtig sind und damit den Anforderungen an gültige, zeitgenössische Bild­hauerkunst wie an die klassische Freifigur, die „figura serpentinata“, entsprechen, die „von allen Seiten gleich schön“ ist, weil sie weder eine eindeutig ausgeprägte Vor­der- noch Rückseite hat und sich nur im vollständigen Umschreiten, An­sicht für Ansicht, formal wie thema­tisch erschließt. Das Kunstwerk entsteht im Kopf und dafür braucht man Zeit.

Hier in Henrichenburg liegt die industrielle Zeit still, und das berührt ein Thema, dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Gegenstand historischen Forschungsinteresses gewesen ist, nämlich: Wie kann man die Schnelllebigkeit der industrialisierten Zeit in den Griff bekommen? Antworten versuchten beispielsweise der Klassiker der „Zeit“-Geschichte, Gustav Bil­finger, dessen Schrift „Die mittelalterlichen Horen und die modernen Stunden. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte“ (Stuttgart 1892) Ende des 19. Jahrhunderts, also auch diese Anlage hier entstand, Furore machte, als man sich im Zuge des Historismus an die glorifizierte Vergangenheit des Mittelalters erinnerte, oder die genau 100 Jahre später erschienene Studie des Historikers Gerhard Dohrn van Rossum, dessen „Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitrechnung“ (München 1992) historische und moderne Zeitdisziplin sowie kapitalistisches Arbeitsethos im 19. und 20. Jahrhundert vergleicht – etwa das von Friedrich Engels, Max Weber und Werner Sombart.

Zeit aber ist nach wie vor die Basis der Synchronisation unserer komplexen, überregional und international kommunizierenden Gesellschaft, deren Individuen ganz automatisch, wenn auch zusehends nervöser werdend, im vorgegebenen Takt agieren, ohne sich des immer noch zunehmenden Verlusts an wirklicher (Lebens-)Zeit bewusst zu werden.
Die Skulpturen von Karl Manfred Rennertz, die zeit- und arbeitsintensiv aus durch Menschenzeit verbrauchtem Holz gesägt, gehackt, gefeilt und bearbeitet wurden, verstehe ich als zeitgemäße Aufforderung, sich räumlich und haptisch, sinnlich, emotional und intellektuell mit dem „Lauf der Zeit“ auseinanderzusetzen. Man muss das nur wagen wollen.
Das wünsche ich Ihnen heute Abend, während der ganzen Ausstellungszeit und besonders während der „Extraschicht“ in der Nacht des 21. Juni 2008, wenn Karl Manfred Rennertz seine Feuerperformance veranstalten wird und das „Produktionsmoment“ Feuer und Bewegung zu seinen Skulpturen dazu holt: Auf dem Kanal bewegen sich dann brennende Booten, die über das Wasser gezogen werden – ein „Ballet der Feuerschiffe“, wie Karl Manfred Rennertz das nennt, von dem das mit Blattgold vergoldetes kleine Boot mitten im Kanal einen Vorgeschmack gibt..
(Prof. Dr. Andreas Beaugrand, 5/2008. Es gilt das gesprochene Wort.)