Tempus fugit! Walter Hellenthal zum 60. Geburtstag

Skulpturen aus Eisen, Stahl und Stein, Arbeiten auf Papier

Andreas Beaugrand

Tempus fugit! Walter Hellenthal zum 60. Geburtstag Andreas Beaugrand Tempus fugit – Die Zeit flieht! Die in diesem Ausruf zum Ausdruck kommende Hektik empfanden bereits die Römer, aber das war noch längst nicht alles: Dramatischer wurde es seit Beginn des 14. Jahrhunderts, als sich der Kalender zur Terminierung von Geschäftsabläufen durchzusetzen begann. Seitdem bestimmt die Uhr als Messgerät vergehender Zeit das Leben – immer und überall, Termine, Termine, keine Zeit –, und selbst große Zeitungen heißen heute „Zeit“ und „Times“. Das Phänomen der schnell vergehenden Lebenszeit steht seit jeher im Mittelpunkt geisteswissenschaftlichen Interesses, und die Fülle der geschichts-, kunst- und religionswissenschaftlichen, philosophischen, theologischen, literarischen, physikalisch-mathematischen, astrologischen, psychologischen, esoterischen und unternehmensberaterischen Publikationen zum Thema ist nahezu unüberschaubar.(1) Es spricht viel für die Behauptung, dass zeitgenössische Kunst ein Mittel ist, den Ablauf der Zeit zu „entschleunigen“, die Schnelligkeit zu bremsen, um reflektorisch-visuell im wahrsten Wortsinne halt zu machen, selbst wenn das eigentlich unmöglich und ebenso unsinnig ist wie die prinzipielle Beschleunigung – welche die meisten Menschen allerdings kritiklos akzeptieren. Heutzutage gibt es in vielen Bereichen eine hektische Betriebsamkeit, die ins Ziellose geht. Aus therapeutischem Kontext ist bekannt, dass dieser Aktionismus etwas mit der Flucht vor den wahren Problemen und der Furcht vor einer ungewissen Zukunft zu tun hat. In der Geschichte hat es diesen blinden Aktionismus immer wieder gegeben, etwa wenn Gesellschaftssysteme auseinanderbrachen und traditionelle Werte nicht mehr galten. Aktuell werden die Hinweise immer zahlreicher, dass „nicht genug Zeit war“, um „reife“ Entscheidungen zu treffen, aber mit einem Mal ist ausreichend Zeit da für selbst verursachtes Krisenmanagement – und die Alternative dazu ist Langeweile. In einer Zeit, in der wir immer mehr dahin gedrängt werden, zu beschleunigen und mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, gehört schon eine große Portion Mut dazu, dem Beschleunigungs- und Gleichzeitigkeitswahn entgegenzusteuern und Kunst zu machen: Denn das benötigt wiederum Zeit.
Walter Hellenthal nimmt sich diese Zeit und macht das in geduldiger, fast stoisch wirkender Konsequenz seit vielen Jahren mit seiner zeichnerischen, malerischen und vor allem mit seiner bildhauerischen Arbeit, mit der er Jahrmillionen altes, gewachsenes Gestein in neuer Form zu neuen Kontexten mit von Menschen geformtem Stahl und Eisen zusammensetzt.(2) Stabil, unverrückbar, stark, zugleich sich öffnend, zum Dialog einladend und leicht wirkend stehen und liegen seine Skulpturen und skulpturalen Installationen vor den Betrachtern und lassen – wenigstens für einen kurzen Augenblick – die Zeit ein wenig langsamer vergehen. Diese seit vielen Jahren allgemein anerkannte und umfassend dokumentierte künstlerische Qualität sowie die Tatsache, dass Walter Hellenthal im Frühjahr 2006 60 Jahre alt wird, war Beweggrund und Anlass für die Veröffentlichung dieses Bandes, der eine durchaus lange Vorbereitungsphase vorausging:
Am 21. November 2005 habe ich einen Brief an die Freunde, Wegbegleiter und Kollegen Walter Hellenthals mit der Bitte verfasst, eine ihm zu Ehren geplante kleine Festschrift zu subskribieren und gegebenenfalls einen Beitrag dafür zu verfassen. Diese Bitte hat große Begeisterung ausgelöst – und selbst wenn nicht sämtliche Ankündigungen tatsächlich eingetroffen sind und nicht alle eingereichten Beiträge wegen allzu großer Privatheit Verwendung finden konnten, verdeutlicht dieser Band aufschlussreich, dass es jenseits des schnelllebigen schönen Scheins unserer Zeit und im Kontext der bildenden Kunst noch etwas gibt, dass Hoffnung auf kulturelle Zukunft. Künstlerische Qualität, Authentizität, konzeptuelle Stringenz und Konsequenz über Jahre sowie Freundlichkeit, Herzlichkeit und Mitmenschlichkeit sind wesentliche Qualitäten Walter Hellenthals, die seine Freunde so sehr an ihm schätzen. Und jetzt kommt er „in die Jahre“, wie der Volksmund gerne sagt und die Freunde grinsend feststellen. Das aber und der dazugehörige Begriff „Alter“ bleiben relativ.(3) Tatsächlich zeugt die bereits ansehnliche Fülle an Jahren von viel Erfahrung und viel Erlebtem, die sich einerseits bei einem Blick auf die Geschichte fast beängstigend vielfältig darstellt – man werfe nur einen kurzen Blick auf Walter Hellenthals Geburtsjahr 1946(4), andererseits aber angesichts des künstlerischen Werks auch plausibel ist: Seine Werke sind eine Kunst, in der sich Lebenszeit spiegelt und die sich „in der Zeit“ abspielt – ganz ähnlich, wie es der österreichische Komponist Arnold Schönberg über Musik formuliert hat: „Zeit wird als Raum gesehen. Beim Niederschreiben (einer Komposition, hier: Erarbeiten bzw. Betrachten eines Kunstwerks) wird der Raum in die Zeit umgeklappt. Für den Hörer (hier: den Betrachter) ist dieser Vorgang umgekehrt: Erst nach dem zeitlichen Ablauf des Werkes (nach genauem Schauen) übersieht er es als Ganzes, seine Idee, seine Form, seinen Inhalt.(5) Genauso funktioniert die Wahrnehmung der Kunst Walter Hellenthals – wenn man sich Zeit nimmt, sie zu sehen. Auguri, lieber Walter!
___
Anmerkungen:
1) Vgl. dazu Andreas Beaugrand: Der Lauf der Zeit, in: Martin Gesing (Hg.): Ulrich Möckel. BaumZeit. Skulpturen und Texte, Bielefeld 2001, S.71–76, und Ders. (Hg.): Zeit. Neues Forum zeitgenössischer Kunst V, Bielefeld 2002, dort auch ausführliche Literaturhinweise.
2) Siehe dazu ausführlich in: Andreas Beaugrand: Einiges über Bildhauerkunst, oder: Gedanken zu Walter Hellenthals Objekten aus Stein, Eisen und Stahl, in: Rainer Danne (Hg.): Walter Hellenthal. Skulpturen. Wandobjekte, Dortmund 2000, und Ders.: Walter Hellenthal. Skulpturen und Installationen in St. Maria im Weinberg, Warburg 2005.
3) Unabhängig davon wird dem Begriff „Alter“ in unserer Gesellschaft, in der ewige Jugend das oberste Gebot zu sein scheint, ein nach wie vor negatives Image mit tradierten Rollenmustern zugeschrieben. Das wird sich angesichts des demographischen Wandels bald ändern (müssen).
4) 1946 national: Im Nachkriegsdeutschland werden die Lebensmittel auf 1.000 Kalorien pro Kopf und Tag rationier; die Bevölkerung versucht, sich bei so genannten Hamsterfahrten auf dem Lande zu versorgen. Konrad Adenauer wird Vorsitzender der CDU, Kurt Schumacher Vorsitzender der SPD. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wird durch Zwangsintegration der Ost-SPD und KPD die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) gegründet. In der SBZ entstehen die „Volkseigenen Betriebe“ (VEB), die britische und die amerikanische Besatzungszone wird zur „Bizone“; erste freie Gemeindewahlen. Durchführung der „Entnazifizierungsgesetze“ in der amerikanischen Besatzungszone, Erfindung der „Persilscheine“, Ende der ersten Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Beginn der Zerstörung sämtlicher nationalsozialistischer und militaristischer Denkmäler; Orientierungslosigkeit in der Kunstszene und Entstehung neuer Künstlergruppierungen.
1946 international: Nach Abdankung von König Viktor Emanuel III. (1945) wird Italien Republik, in Argentinien wird der 1945 gestürzte amerikafeindliche Juan Perón mit Hilfe seiner außerordentlich beliebten Frau Evita erneut Präsident, und in Palästina verschärfen sich die jüdischen Terroraktionen gegen die britische Mandatsmacht.
5) Eine mündliche Äußerung Arnold Schönbergs (1874–1951) nach Josef Rufer: Die Komposition mit zwölf Tönen, Berlin 1952, S. 50, zitiert nach Christian Martin Schmidt: Brennpunkte der Neuen Musik, Köln 1977, S. 99.